Joel Meyerowitz: "Where I Find Myself" – Retrospektive eines legendären Fotografen

Eine Kamera zu tragen, ist wie eine Freikarte für das Unerwartete.
— Joel Meyerowitz

Joel Meyerowitz gehört zu den einflussreichsten Fotografen der Gegenwart. Als Streetfotograf in New York gestartet, hat sich der Pionier der Farbfotografie im Laufe seiner Karriere immer wieder neu erfunden. Die große Retrospektive "Where I Find Myself"* feiert die Vielseitigkeit dieses Ausnahmekünstlers.

Wie wurde Joel Meyerowitz zu einem der legendärsten Fotografen der vergangenen Jahrzehnte? Die Suche nach Antworten beginnt in der Gegenwart.

„Eine Kamera zu tragen, ist wie eine Freikarte für das Unerwartete.“ Joel Meyerowitz

Auf den ersten Seiten der großen Retrospektive „Where I Find Myself“*, erschienen im Laurence King Verlag, finden sich nicht etwa die Bilder, die Meyerowitz in den 1960er und 1970er als rastloser Streetfotograf in New York machte. Stattdessen folgt das Werk einer umgekehrten Chronologie. Das erste Bild zeigt ein vertrocknetes Blatt vor schwarzen Hintergrund.

Stillleben statt Puls der Straße. Größer könnte der Kontrast zwischen den Anfangsjahren und dem Jetzt nicht sein. Gleichzeitig wird früh deutlich, welche Wandlungen Meyerowitz im laufe seiner Laufbahn durchgemacht hat. Er hat nicht starr an dem Stil festgehalten, mit dem er ersten Ruhm erlangte. Wenn er ein Plateau erreicht hatte, machte sich Meyerowitz stets auf, Neuland zu erkunden.

Joel Meyerowitz – Der Reiz des Unbekannten

Experimentierfreudig stellte er sich furchtlos neuen Herausforderungen. Meyerowitz liebt das Gefühl, etwas nicht komplett zu beherrschen und sich fallen zu lassen, statt träge das weiterzumachen, was er aus dem Effeff mit verbundenen Augen kann. Der Zauber des Unbekannten reizt ihn mehr als vertraute Pfade. Meyerowitz sagt: „Eine Kamera zu tragen, ist wie eine Freikarte für das Unerwartete.“ So erfand er sich immer wieder neu und wurde zu einem fotografischen Generalisten. Diese furchtlose, ja fast naive, Neugier zeigte sich schon früh. Von heute auf morgen schmiss er einst seinen Job in einer Werbeagentur hin und beschloss, Fotograf zu werden – ohne, dass er Ahnung von Fotografie gehabt hätte.

Auf Umwegen zur Fotografie

Meyerowitz wurde am 6. März 1938 in der Bronx geboren. Fotografie war für ihn zunächst nur etwas, um Geburtstage und Familienfeiern zu dokumentieren. Seine Leidenschaft gehörte der Malerei und dem Zeichnen von Comics. Er besuchte eine Kunstschule und landete anschließend in einer Werbeagentur. Die Arbeit dort langweilte ihn aber schnell. Der Wendepunkt kam, als er Robert Frank im Rahmen einer Werbekampagne kennenlernte.

Schlüsselerlebnis mit Robert Frank

Er schaute dem durch "The Americans" bekannt gewordenen Meisterfotografen über die Schulter und war fasziniert, wie dieser mit der Kamera umging. Das wollte er auch machen. Meyerowitz ging zu seinem Chef und reichte die Kündigung ein. Zu dem Zeitpunkt hatte er aber nicht mal eine eigene Ausrüstung. Sein Boss war so freundlich, ihm eine Kamera zu leihen.

Fortan folgte Meyerowitz unbeirrt seiner Leidenschaft. Unermüdlich lief er auf den Straßen New Yorks hin und her. Das war sein Revier. Anfangs, erinnert sich Meyerowitz, sei er so schüchtern gewesen, dass er sich bei Paraden in der Menschenmenge versteckte.

Ohne formale Ausbildung machte er sich als Autodidakt daran, das Handwerk zu lernen. Schnell wuchs sein Archiv. Durch Diskussionen mit Kollegen entwickelte er seinen Stil und fand heraus, was funktionierte und was nicht. Der Prozess war immer der gleiche: Rausgehen, Ausprobieren, gegenseitige Kritik – und dann alles wieder von vorne.

Zu Meyerowitz’ Kreis zählte damals unter anderem auch Tony Ray-Jones.

Pionier der Farbfotografie

Das Buch wirft immer wieder auch Fragen auf, die sich Meyerowitz im Laufe seiner Karriere gestellt hat. Zum Beispiel in Bezug auf die Farbfotografie. In seinen Anfangsjahren war diese in der Kunstwelt verpönt. Galeristen, Kuratoren und Museumsdirektoren rümpften die Nase. Farbfotografie sei nichts für Ausstellungen, nur etwas für Werbung, Magazine und Privatalben – so die allgemeine Meinung. Meyerowitz sah das anders: „Warum soll man nicht in Farbe fotografieren? Die Welt ist ja auch bunt.“

Der Gegenwind des Mainstreams stachelte ihn an. Zum Vergleich machte er Schwarz-Weiß und Farbaufnahmen von der gleichen Szene und fragte sich anschließend: Was kann Farbe beitragen?

Zusammen mit William Eggleston und Stephen Shore gehört Meyerowitz zu den Pionieren, die die Farbfotografie auch in der Kunstwelt salonfähig machten.

Mitte der 1970er vollzog Meyerowitz dann den Wechsel weg von der Street Photography hin zu Landschaftsfotografie mit Fine-Art-Look. Aus dem pulsierenden Zentrum New Yorks flüchtete er in die ländlicheren Außenbezirke. Die Freizeitidylle der USA in Provinzstädten wie Cape Cod* war zeitweise ein beherrschendes Thema.

Es folgten Ausflüge in die Porträt- und Architekturfotografie. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York war Meyerowitz einer der wenigen Fotografen, die die Zerstörung und den Wiederaufbau am „Ground Zero“ dokumentieren durften. Daraus entstand das Buch „Aftermath: World Trade Center Archive“*.

Heute lebt der US-Amerikaner überwiegend in Italien und fotografiert abstrakte Stilleben.

„Where I Find Myself“ ist ein wunderbares Werk, das den Betrachter in den Spuren eines der einflussreichsten Fotografen der Gegenwart wandeln lässt.

Für Meyerowitz bedeutet Fotografie mehr als das Erstellen von Bildern. Die Kamera half ihm dabei, die Welt um sich herum zu spüren und zu erkunden. Die Vielfalt der Welt spiegelt sich in der künstlerischen Beweglichkeit von Meyerowitz wider.

*Bei einigen der Links auf dieser Website handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Wenn du die verlinkten Produkte kaufst, nachdem du auf den Link geklickt hast, erhalte ich eine kleine Provision direkt vom Händler dafür. Du zahlst bei deinem Einkauf nicht mehr als sonst, hilfst mir aber dabei, den Podcast und diese Webseite für dich weiter zu betreiben. Herzlichen Dank für deine Unterstützung!

Zurück
Zurück

Atlas der Reiselust: Inspiration für ein ganzes Leben

Weiter
Weiter

Henri Cartier-Bresson: „Die Photographien“ – Hommage an einen Jahrhundertfotografen