Vivian Maier: "Farbphotographien" – Die bunte Seite der rätselhaften Straßenfotografin

Wir müssen Raum für andere Menschen schaffen. Es ist ein Rad. Du steigst ein, du gehst bis zum Ende, und jemand anderes hat die gleiche Chance, bis zum Ende zu gehen – und so weiter. Unter der Sonne gibt es nichts Neues.
— Vivian Maier

Vivian Maier. Ein anspruchsloses Kindermädchen mit einer Leidenschaft für die Fotografie. Die Geschichte dieser bemerkenswert talentierten Frau, die ihre Arbeit zu Lebzeiten nie jemandem gezeigt hatte, sorgte nach ihrem Tod für große Aufmerksamkeit in der Kunstwelt.

Dank des Historikers John Maloof aus Chicago erhält Vivian Maier jetzt – postmortal – die Anerkennung, die sie verdient. Als eine der wenigen Frauen hat sie es geschafft, sich einen Platz in dem von Männer dominierten Genre der Straßenfotografie zu sichern. Mittlerweile wird ihr Namen in einem Atemzug mit Ikonen wie Henri Cartier-Bresson, Gary Winogrand, Robert Frank oder Lee Friedlander genannt.

Alles begann, als Maloof bei einer Auktion 2009 eine Schachtel voller Negative kaufte. Als er zu Hause das Material sichtete, erkannte er schnell, was er in der Hand hatte: einen wahren fotografischen Schatz. Im Folgenden versuchte Maloof vergeblich, die Identität des Künstlers zu lüften. Erst als er kurz darauf auf einen Nachruf in der Lokalzeitung stieß, wusste er, dass eine Nanny namens Vivian Maier die Autorin der brillanten Straßenfotos war.

Seitdem hat Maloof viel Zeit darauf verwendet, das Material zu bearbeiten, das Vivian Maier hinterlassen hat: fast 150.000 Negative. Größtenteils handelt es sich dabei um Schwarz-Weiß-Fotografien. Aber auch in der Welt der Farbfotografie bewegte sie sich meisterhaft. Und das zu einer Zeit in den 1960er und 1970er Jahren, als Farbe in der Fotografie noch kein Massenphänomen war.

Wer war Vivian Maier?

Der Band „Vivian Maier – Die Farbphotographien“* (Schirmer/Mosel-Verlag) zeigt auf wunderbare Weise, das Vivian Maier nicht nur über ein scharfes Gespür für fotografische Kompositionen und besondere Szenen des Alltags hatte – sie vermochte auch virtuos, ihren Bildern mit Farbe eine weitere künstlerische Dimension zu verleihen.

Doch wer war Vivian Maier? Was trieb sie an? Warum hatte sie stets eine Kamera dabei, machte tausende von Fotos, zeigte diese aber niemanden? Sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihre Bilder zu entwickeln und sie sich selbst anzuschauen.

Bis heute bleibt sie größtenteils ein Rätsel. Wir wissen sehr wenig über Vivian Maier. Sie wurde 1926 in New York geboren und zog später in die Gegend um Chicago, wo sie sich um die Kinder mehrerer Familien kümmerte. In ihrer Freizeit machte sie lange Spaziergänge mit ihrer Rolleiflex-Kamera. In ihren Bildern dokumentierte sie das Straßenleben in Chicago. Allein: Die Antwort auf die Frage, warum sie ihre bezaubernde Arbeit geheim gehalten hat, werden wir nie erfahren.

So bleibt die Freude an den Bildern, die uns Vivian Maier hinterlassen hat. Und der in ihnen enthaltene Widerspruch.

Sie zeigen ihr großes Interesse an der Welt um sie herum – dennoch war sie nicht daran interessiert, ihre Fotos mit anderen Menschen zu teilen. Dachte sie, dass sie nicht gut genug waren? Oder war sie einfach zu schüchtern?

Ein seltenes Zitat von Vivian Maier aus einer Film-Aufnahme enthüllt ihre Lebenseinstellung: „Wir müssen Raum für andere Menschen schaffen. Es ist ein Rad. Du steigst ein, du gehst bis zum Ende, und jemand anderes hat die gleiche Chance, bis zum Ende zu gehen – und so weiter. Unter der Sonne gibt es nichts Neues.“

Unter der Sonne gibt es nichts Neues. Vielleicht hielt sie ihre Fotografie auf bescheidene Weise für nichts Besonderes; nichts, was vorher nicht auch schon mal gemacht worden war. Zum Glück wurde ihr Vermächtnis entdeckt, bevor es mit Maiers Tod in Vergessenheit geriet.

„Ein Foto ist ein Geheimnis um ein Geheimnis. Je mehr es dir sagt, desto weniger weißt du.“ Diane Arbus

Das Buch „Vivian Maier – Die Farbphotographien“, bietet die Möglichkeit, in die Welt dieser bemerkenswerten Fotografin einzutauchen – und zeigt, dass Maiers Bilder zweifelsfrei etwas Besonderes sind. Diane Arbus sagte einmal: „Ein Foto ist ein Geheimnis um ein Geheimnis. Je mehr es dir sagt, desto weniger weißt du.“ Genauso geht es dem Betrachter von Vivian Maiers Bildern. Sie steckt hinter jedem Motiv, oft ist sie sogar mit einem Schatten oder einer Spiegelung Teil davon. Doch immer, wenn man das Gefühl hat, ihr auf die Schliche zu kommen, entzieht sie sich wieder; verschwindet wie ein Geist, der sich in Luft auflöst.

Vivian Maier – „Poetin der Fabphotographie“

Was bleibt, sind Einblicke in eine vergangene Epoche mit den Augen einer Frau, die ihre Umwelt genau studierte, sich selbst dabei aber den Blicken ihrer Mitmenschen entzog. Joel Meyerowitz, selbst ein legendärer Straßenfotograf, adelte Vivian Maier in seinem Vorwort zu dem Buch als „Poetin der Fabphotographie“. Zu den Wahrheiten der Fotografie, so Meyerowitz, gehöre es, „dass die besten Straßenphotographen die Kunst der Unsichtbarkeit erlernen oder sich zumindest die Überzeugung aneignen, sie wären unsichtbar“.

Vivian Maier war eine Meisterin darin. Sie beherrschte alle dafür nötigen „Taschenspielertricks“. Meyerowitz: „Abtauchen, zum Scheinrückzug antreten, herumtänzeln und -wirbeln, das alles im Wechselschritt, während der Blick durch Menschenaufläufe und Versammlungen schweift, Alleen und Gassen entlang, durch Parks und über Strände, kurz, überall dort, wo das Alltagsleben unsere Aufmerksamkeit bannt und unsere Sehnsucht weckt. Und unsere Unsichtbarkeit hilft uns, den Göttern das Feuer zu stehlen, ohne dabei ertappt zu werden.“

Ertappen ließ sich Vivian Maier nie. Sie war der Schatten, der sofort verschwand, wenn man sich nach ihm umdrehte. Sie folgte einem verliebten Pärchen, das innig Händchen haltend Spazieren ging. Einem Mann, der seine Mittagspause genoss, schaute sie in dessen Proviantbox voller Obst und frischen Broten. Oder sie übertrug die Rolle der stillen Beobachterin auf ein älteres Ehepaar, das durch einen Mauerspalt neugierig das Treiben in einem Swimmingpool beobachtet. Jede Szene für sich eine Perle des Alltags, die nur derjenige entdeckt, der genau hinschaut.

Insofern sind Vivian Maiers Fotos auch Zeitdokumente. Mit ihrem wachen Blick für Details wie Hüte, Mäntel, Frisuren, Schaufensterdekorationen oder Werbeplakate entführt sie den Betrachter in eine längst vergangene Epoche und lässt diese wieder lebendig werden. Wir können uns in die festgehaltenen Momente hineinversetzen oder uns den dargestellten Personen nahe fühlen.

In Bezug auf die Fotografin ist indes genau das Gegenteil der Fall. Anstatt die Person hinter der Kamera in der Auseinandersetzung mit ihren Bildern besser kennenzulernen, scheint sie sich weiter weg zu bewegen. In die Ferne. Der Betrachter bleibt zurück und fragt sich: Wer war Vivian Maier? Darin besteht aber auch der Reiz.

Maloof brachte es auf den Punkt: „Es macht Spaß, Vivian Maier zu jagen – obwohl sie es immer schafft, zu entkommen, wenn man sich nahe fühlt, sie zu ergreifen.“

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