Robert Mertens: "Der eigene Blick" – Fotografisch sehen lernen

Jedes Wachsen ist verbunden mit Veränderung und meidet den Stillstand. Daher kann ich nur sagen: Bleiben Sie in Bewegung und vermeiden Sie es, sich in Ihrer Komfortzone allzu bequem einzurichten.
— Robert Mertens

Eine eigene Bildsprache entwickeln: In seinem Buch „Der eigene Blick“ zeigt Fotograf Robert Mertens, wie man in der Fotografie zu einem unverwechselbaren individuellen Stil gelangt und einzigartige Bilder macht.

Interview mit Robert Mertens

Wie ist die Ihre Leidenschaft für die Fotografie entstanden? Können Sie sich noch an den Ihren ersten Kameramoment und das erste Foto erinnern?

Meine erste Kamera war aus Plastik und eine Mittelformat vom Jahrmarkt. Damals war es für mich als Jugendlicher von etwa 12 Jahren eine besondere Herausforderung, den Film richtig einzulegen. An das erste Foto kann ich mich nicht mehr wirklich erinnern – aber ganz bestimmt war es ein Foto vom Garten meiner Eltern.

Erinnern kann ich mich allerdings noch gut daran, dass ich das Fotografieren damals mehr als Spiel verstanden habe. Übrigens etwas, das ich auch heute immer noch gerne versuche, wieder zurückzuholen und auch jedem nur empfehlen kann: wieder einen spielerischen Umgang mit der Fotografie zu entwickeln.

Welche Bedeutung hatte die Fotografie am Anfang für Sie? Was bedeutet Sie Ihnen heute?

Fotografieren war für mich immer wie schreiben oder malen – ich habe nur ein anderes Medium benutzt. Aber es ging mir am Anfang und – auch heute – immer darum, eine Botschaft zu vermitteln oder etwas Besonderes zu zeigen. Zwischendurch hatte die Fotografie allerdings diese Bedeutung für mich verloren, nämlich als ich als Studiofotograf in der Industrie und Werbung gearbeitet habe.

In dieser Phase hat sich mein Zugang zur Fotografie schnell in eine andere Richtung verändert, ebenso die Arbeit an sich – mit Zeit- und Budgetdruck, Kundenwünschen und Vorgaben von Agenturen. Das sollte sich übrigens auch jeder bewusst machen, der heute überlegt, sein fotografisches Hobby zum Beruf zu machen.

Was waren die wichtigsten Tipps und Schritte, die Sie entscheidend als Fotograf vorangebracht haben? Wer sind Ihre fotografischen Vorbilder? Warum?

Zu Frage 1: Zwei Dinge, die mich seit Anfang an begleitet haben und die ich quasi zu meinem fotografischen Lebensmotto gemacht habe, lauten: ‚Reduktion auf das Wesentliche‘ und ‚Geh deinen eigenen Weg‘.

Zu Frage 2: Der Fotograf, der mich seit vielen Jahrzehnten immer wieder begeistert, ist Duane Michals. Vielleicht auch deshalb, weil er die Botschaft in seinen Bildern reduziert auf die Kernaussage und – so wie ich das aus der Ferne erkennen kann – konsequent seinen ganz eigenen Weg gegangen ist.

Wie wichtig sind aus Ihrer Sicht Mentoren auf dem Weg, eine eigene fotografische Handschrift zu entwickeln?

Mentoren können sehr hilfreich sein, wenn sie es schaffen, die richtigen Fragen zum richtigen Zeitpunkt zu stellen. Schwierig wird es allerdings dann, wenn Mentoren stets die ‚richtigen‘ Antworten parat haben, und damit versuchen, eine bestimmte Richtung vorzugeben – oder ihr eigenes Wertesystem mit einfließen lassen und damit den Raum für ihr Gegenüber immer enger machen. Daher sehe ich das Thema der Mentoren mit etwas gemischten Gefühlen – ganz besonders dann, wenn es um die Entwicklung einer eigenen fotografischen Handschrift geht.

Welche Möglichkeiten sind für Sie zudem entscheidend, um als Fotograf zu wachsen?

Jedes Wachsen ist verbunden mit Veränderung und meidet den Stillstand. Daher kann ich nur sagen: Bleiben Sie in Bewegung und vermeiden Sie es, sich in Ihrer Komfortzone allzu bequem einzurichten. Beginnen Sie damit, aktiv Veränderungen in Ihren fotografischen Alltag mit einzubauen.

Wie lernt man ‚Sehen‘ mit der Kamera? Wie entwickelt man einen fotografischen Blick? Welche Rolle kann dabei auch die Beschäftigung mit anderen Kunstformen spielen?

Darüber könnte man jetzt ein ganzes Buch schreiben. (lacht) Aber der Hinweis auf andere Kunstformen ist schon mal ganz hilfreich. Viele Fotografen orientieren sich ausschließlich an anderen Fotografen. Das ist aus meiner Sicht zu wenig. Denn ich kann es immer nur wiederholen: Gehen Sie in Museen und Ausstellungen, beschäftigen Sie sich auch mit Themen wie Malerei und Grafik, ebenso wie Skulptur und Objektkunst. Werfen Sie einen Blick über den Tellerrand und erweitern Sie so Ihr fotografisches Verständnis.

Stichwort Kreativität: Was sind aus Ihrer Sicht die größten Fehler, die Hobbyfotografen machen und wie kann man diese vermeiden?

Ob es wirklich DER größte Fehler ist, kann ich natürlich nicht mit Sicherheit sagen. Aber ein großer Irrtum ist es bestimmt, wenn wir immer gleich unserer ersten Idee vertrauen. Ich erlebe es immer wieder in meinen Workshops, dass Fotografen ein interessantes Motiv sehen und sich dann mit einer einzigen Aufnahme zufrieden geben. Aus kreativer Sicht ist das Problem aber, dass wir mit der ersten Idee aus unserem üblichen Ideenpool schöpfen, bei unseren Gewohnheiten bleiben und damit unseren antrainierten Mustern folgen.

Damit verharren wir allerdings auch in unserer Komfortzone. Kreativität entsteht aber erst außerhalb unserer Komfortzone. Eine Lösung für dieses Problem lautet: Fotografieren Sie Variationen. Suchen Sie viele weitere Abwandlungen zu Ihrem Motiv. Dadurch beschäftigen Sie sich intensiv mit den kreativen Möglichkeiten und werden mit Sicherheit spannende Ergebnisse erzielen.

Was macht für Sie ein gutes Foto oder gute Fotografie im Allgemeinen aus?

Ein gutes oder besser ein erfolgreiches Foto ist zunächst einmal ein Foto, welches überhaupt in der Menge an Bildern wahrgenommen wird und somit die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. Bei dem aktuellen Überangebot an Bildern ist das nicht selbstverständlich. Ansonsten kann man bei den meisten Fotos, die das Label ‚gut‘ verdienen, die folgenden vier Punkte (in unterschiedlichen Gewichtungen) ausmachen: Das Bild zeigt: ein besonderes Motiv ist spannend komponiert transportiert einen interessanten Gedanken oder eine Idee… …und wurde passend zur beabsichtigten Aussage bearbeitet Je mehr dieser Punkte zutreffen, desto besser ist die Wirkung.

Auf meiner Seite geht es um Fotografie auf Reisen: Welche Bedeutung hat die Fotografie für Sie, wenn Sie an fremde Orte kommen? Wie hilft sie Ihnen dabei, eine neue Umgebung zu erforschen und zu verstehen?

Ich muss gestehen, dass ich kein klassischer Reisefotograf bin und mir die Beantwortung dieser Frage daher schwer fällt. Was aber geschieht, wenn ich unterwegs bin, könnte man vielleicht am ehesten als ‚Inspiration durch den Ortswechsel‘ bezeichnen. Eine neue Umgebung initiiert immer viele neue Impulse, die ich dann gerne in meine kreative Arbeit mit einfließen lasse. Das muss nicht zwangsläufig gleich ein konkretes Bild sein, sondern zunächst vielleicht auch nur eine Idee, die dann später weiterentwickelt wird.

Viele Menschen fotografieren auf Reisen, tun sich vor der eigenen Haustür aber schwer mit der Motivfindung. Wie kann man auch in gewohnter Umgebung kreativ und aktiv mit der Kamera bleiben?

Das stimmt: Wir neigen dazu, unser direktes Umfeld nicht mehr so genau wahrzunehmen. Das ist schade – bietet dieses doch eine große Vielfalt an originellen Motiven. Ein Tipp aus meinen Workshops, um diese Wahrnehmung wieder neu zu aktivieren, lautet: Suchen Sie sich eine gewohnte Umgebung und reduzieren Sie den Radius auf wenige Quadratmeter. Das kann Ihre Küche sein, ein Teil Ihres Gartens oder die Haltestelle, an der Sie morgens auf Ihren Bus zur Arbeit warten. Nehmen Sie sich nun 60 Minuten Zeit und fotografieren Sie dort (und NUR dort) mindestens 60 Bilder. Im ersten Moment mag sich das schwierig anhören, aber Sie werden sehen, wie viele neue Motive und Möglichkeiten Sie plötzlich entdecken.

Was erwartet den Leser Ihres Buches? An wen richtet es sich?

In ‚Der eigene Blick‘ zeige ich die verschiedenen Möglichkeiten auf, eine eigene und vor allem eine persönliche fotografische Handschrift zu finden. So ein Prozess entwickelt sich meist über viele Jahre. In diesem Buch stelle ich viele Fragen, um die Leser zu ermutigen, intensiv über die eigene Fotografie nachzudenken.

Zusätzlich finden die Leser noch zahlreiche Workshops, welche die theoretischen Ausführungen fotografisch und praktisch unterstützen. Während sich ‚Der eigene Blick‘ auf das Thema der Bildsprache konzentriert, bietet das neue Buch ‚Der kreative Fotograf‘, das ich gemeinsam mit meiner Frau geschrieben habe, einen Einblick in die kreativen Möglichkeiten der Fotografie. Beide Bücher richten sich an Anfänger wie fortgeschrittene Fotografen.

Über Robert Mertens

Robert Mertens ist Fotograf, Medien-Designer und Trainer. Die Leidenschaft für die Fotografie begleitet ihn seit frühester Jugend. Nach der Ausbildung zum Fotografen wurde er Assistent im legendären Manfred Rieker Studio und leitete schließlich das Fotostudio einer Stuttgarter Werbeagentur.

Seit 1989 lebt und arbeitet Robert Mertens als selbständiger Kreativer. Mit Ausstellungen, etwa in Stuttgart, Nagold, Linz oder Tübingen, tritt er immer wieder in die Öffentlichkeit. Seit 2007 leitet er regelmäßig Workshops, Seminare und Trainings zu den Themen Kreativität und Fotografie. Zudem lehrt er als Dozent an der Leica Akademie MasterClass. Sein Motto: Reduktion auf das Wesentliche.

Von Robert Mertens sind im Rheinwerk-Verlag folgende Bücher erschienen: „Der eigene Blick: Eine fotografische Bildsprache entwickeln“, „Der kreative Fotograf: Neue Impulse für außergewöhnliche Bilder“ und „Kreative Fotopraxis: Bewusst sehen, außergewöhnlich fotografieren“.

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